Bei meinem Unterricht für angehende Heilpraktiker für Psychotherapie werde ich öfter gefragt, welche Kriterien es dafür gibt, welche besonderen Eigenschaften eines Menschen „normal“ sind und welche nicht. Wenn wir davon ausgehen, dass wir alle unsere charakterlichen Eigenheiten haben, die uns besonders und einzigartig machen – wann überschreiten bestimmte Auffälligkeiten die Grenze zu einem psychischen Leiden?
In der Literatur tauchen immer wieder vier Kriterien auf, die meiner Meinung nach eine gute Grundlage zur Beurteilung dieser Frage liefern. Das erste Kriterium ist die Abweichung von einer Norm – somit ein Denken, Fühlen und Verhalten, das sich deutlich von gesellschaftlichen Vorgaben und Werten unterscheidet. Diese Normen sind selbstverständlich nicht starr, sondern veränderlich über Zeitgeist und Kultur. Das zweite Kriterium ist die Fehlfunktion, das heißt, bestimmte Symptome sind so ausgeprägt, dass ein Alltag oder bestimmte Vorhaben nicht wie gewünscht organisiert werden können. Beispielsweise können starke Zwänge einen Menschen daran hindern, einen Haushalt zu führen oder Arbeitsaufträge in einer vorgegebenen Zeit zu erledigen. Menschen mit psychischen Erkrankungen oder diejenigen, die mit ihnen Kontakt haben, empfinden in der Regel einen gewissen Leidensdruck, das heißt, sie wünschen sich eine Verbesserung oder Veränderung ihrer Symptome. Ein viertes Kriterium, die Selbst- oder Fremdgefährdung, stellt nicht selten einen Notfall dar und führt zur Unterbringung in einer Fachklinik.
Wenn ich das Thema Persönlichkeitsstörungen in meinen Kursen bespreche, melden meine Teilnehmerinnen und Teilnehmer oft zurück: „Diese Symptome, die beschreiben genau meinen Kollegen, unsere Nachbarin“, „die sind genauso!“ Am Beispiel der Persönlichkeitsstörungen wird deutlich, wie fließend die Grenzen zwischen gesund und behandlungsbedürftig sein können. Entspricht das Verhalten eines Menschen in meiner Umgebung einfach seinem individuellen Persönlichkeitsstil oder leidet er bereits an einer psychischen Krankheit? Alle Auffälligkeiten einer Persönlichkeitsstörung gibt es auch in einer „Normalversion“. Wir können uns also fragen, ist mein Chef nur gewissenhaft oder schon zwanghaft? Ist er nur besonders selbstbewusst oder ein ausgewachsener Narzisst? Persönlichkeitsstörungen sind weniger leicht zu greifen als beispielsweise Angst und Depression, bei denen es klar umrissene und behandelbare Symptome gibt.
Die Auffälligkeiten betreffen bei einer Persönlichkeitsstörung nicht nur einen abgegrenzten Teil des Erlebens, sondern die gesamte Persönlichkeitsstruktur. Sie sind starr und unflexibel und von den betroffenen Personen selbst schwer erkennbar und veränderbar. Ihre Besonderheiten im Denken, Fühlen und Handeln sowie in ihrer Beziehungsgestaltung werden von ihnen manchmal gar nicht als etwas Störendes wahrgenommen. Häufig sind es Menschen in ihrer Umwelt, die ihnen den Impuls geben oder sie sogar nötigen, sich in psychotherapeutische Behandlung zu begeben.
Eine treffende Definition des Psychologen E. Jerry Phares lautet, die Persönlichkeit sei ein Muster von charakteristischen Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen, die eine Person von einer anderen unterscheiden und die über Zeit und Situation fortdauern. Unsere Persönlichkeit unterscheidet uns von anderen Menschen. Sie betrifft alle Bereiche unseres Erlebens und die Art, wie wir Beziehungen zu anderen gestalten. Sie begleitet uns beim Älterwerden und scheint zuverlässig hervor, egal in welcher Situation wir uns befinden - ob im Job, bei der Familienfeier oder im Vereinsleben.
Der Grieche Hippokrates hat sich den Persönlichkeitsvarianten von Menschen genähert, indem er ihnen vier Temperamente zugeordnet hat, welche wiederum den vier Elementen sowie vier Körpersäften entsprechen: So ordnete er dem optimistischen Sanguiniker die Luft und das Blut zu, dem traurigen Melancholiker die Erde und die schwarze Galle. Dem reizbaren Choleriker wies er das Feuer als Element und die gelbe Galle als Körpersaft zu, dem langsamen Phlegmatiker Wasser und Schleim. Seine Begriffe finden wir auch heute noch in unserem Sprachgebrauch.
Sigmund Freud bezeichnete Persönlichkeitsstörungen als Charakterneurosen, im Unterschied zu Symptomneurosen, bei denen das Leiden auf bestimmte umrissene Symptome beschränkt ist (also beispielsweise Angst, gedrückte Stimmung), welche behandelt und verändert werden können. Freud beschrieb dabei drei Grundtypen, die auf seinem Instanzen-Modell beruhten: den zwanghaften Typus (Über-Ich), den histrionischen Typus (Es) und den narzisstischen, welchen er dem Ich zuordnete.
Heute beschäftigen wir uns mit Persönlichkeit beispielsweise in Persönlichkeitstests, die bei der Bewerberauswahl und der Personalentwicklung in vielen Unternehmen von Bedeutung sind.
Wie bereits erwähnt, gibt es alle Auffälligkeiten einer Persönlichkeitsstörung auch in einer „Normalversion“, jedoch tun Menschen, die an diesem Krankheitsbild leiden, stets „des Guten zuviel“. Sie sind mehr als nur gewissenhaft, sondern verhalten sich zwanghaft und rigide. Sie sind nicht nur wachsam, sondern paranoid. Diese Menschen verfügen über wenig Möglichkeiten, ihren Persönlichkeitsstil an unterschiedliche Situationen und deren Anforderungen anzupassen. Während gesunde Menschen in der Lage sind, verschiedene Aspekte ihrer Persönlichkeit wie bei einem Mischpult zu kalibrieren und zu variieren, sind Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung gefangen in starren, unflexiblen Mustern, die meist schon seit ihrer Jugend immer wieder zu schwierigen und ärgerlichen Erfahrungen führen. Manchmal erkennen sie nicht ihre eigene Beteiligung an problematischen Situationen und suchen sich Hilfe oft erst durch Impulse aus ihrer Umwelt. Persönlichkeitsstörungen bleiben ohne Behandlung ein Leben lang, können aber im mittleren und höheren Alter nachlassen. Weitere psychische Belastungen wie Depressionen, Süchte und Ängste, kommen oft hinzu.
Wenn ich also überlege, ob ein Mensch in meiner Umgebung lediglich einen etwas eigenwilligen Persönlichkeitsstil hat oder bereits eine krankheitswertige Störung, kann ich mit somit folgendes fragen:
Königswinterer Straße 619
53227 Bonn
mail[at]karinstuehn[dot]de
Telefon: 0228 - 90822989